Kommentatoren erklären die Schrecklichkeit des Schulmassakers von Newtown hauptsächlich mit zwei Gründen: die leichte Zugänglichkeit von Waffen in den USA und die Schiessübungen der Mutter Lanza mit ihrem Sohn. Doch solche Interpretationen bleiben an der Oberfläche.
Erfurt, Nickle Mines, Emsdetten, Tuusula und Kauhajoki, Winnenden oder Newtown – das sind Stätten der in ihrer Schrecklichkeit eindrücklichsten Amokläufe der vergangenen zehn Jahre. Auffällig ist zweierlei: die Tatorte sind allesamt Schulen, die Täter allesamt junge Männer. Diese beiden Konstanten müssen zusammenhängend betrachtet werden.
Schule ist für viele Jungen in den letzten Jahren zu einem Horror-Trip geworden. Sie fühlen sich dort unwohl, nicht ernst genommen und schlechter benotet als Mädchen. Der Hamburger Lehrer Frank Beuster spricht von einer „Jungenkatastrophe“, die amerikanische Philosophin Christina Hoff Sommers vom Schul-„Krieg gegen die Jungen“.
Klar: es gibt nach wie vor gescheite und fleißige Buben. Aber eben: die Zahl der Problemjungen hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen.In der Kriminalstatistik sind Buben sechzig Mal öfter vertreten als Mädchen; psychische und psychosomatische Störungen sind bei Jungen achtmal häufiger; der Anteil von Buben in Förderschulen und Institutionen für Verhaltensauffälligkeiten beträgt zwei Drittel; dreimal so viele Jungen wie Mädchen sind heute Klienten von Erziehungsberatungsstellen; im Durchschnitt sind mittlerweile alle Schulleistungen von Buben schlechter als die der Mädchen; Alkohol- und Drogenprobleme von Jungen nehmen dramatisch zu; die zweithäufigste Todesursache von Buben ist der Suizid, wobei sich Jungen mindestens sechsmal häufiger selber umbringen als Mädchen im gleichen Alter.
Alle diese Symptome lassen sich letztendlich auf die Ursache zurückführen, dass es für Buben in den vergangenen Jahren immer mühsamer geworden ist, einen sinnvollen Weg zum Mannsein zu finden. „Unsere Söhne haben Probleme“, schreibt William Pollack., „und diese Probleme sind gravierender, als wir denken“. Selbst die Buben, die nach außen ganz ‚normal’ wirkten und den Anschein erweckten, mit dem Leben gut zurechtzukommen, seien davon betroffen. „Gemeinsam mit anderen Forschern musste ich in den letzten Jahren erkennen, dass sehr viele Jungen, die nach außen hin ganz unauffällig wirken, in ihrem Inneren verzweifelt, orientierungslos und einsam sind“. Sie können sich nicht mehr an allgemein gültigen Bildern von Männlichkeit orientieren, wie das früher der Fall war. Stattdessen müssen sie sich allein zurecht finden – nicht zuletzt, weil das die männliche Rolle von ihnen verlangt.
Das ist ganz eindeutig eine Überforderung.„Jungen werden ermuntert, sich zu behaupten, aber systematisch daran gehindert, ihre Emotionen auszudrücken und ihre Bindungsfähigkeit zu entfalten“, notiert Terrence Real in seinem Buch über männliche Depressionen. Männer beziehen sich auf sich selbst und werden erzogen, in diesem Sinne autark zu leben; sie verkörpern das selbst-bezogene Geschlecht. Abgrenzung und Distanz sind männliche Tugenden; am stärksten sind sie im männlichen Mythos des „lonely wolf“ verankert.
Vor 25 Jahren hat die amerikanische Männerzeitschrift „Man“ einen wegweisenden Artikel veröffentlicht: „Wir haben es mit einer sozialen Krankheit zu tun; sie heißt: unreife Männlichkeit“. All diejenigen, die sich heute nicht mehr „einkriegen“, hätten keine Chance gehabt, Männlichkeit sinnvoll zu erfahren. „Es wurden ihnen nur negative Klischees vom Mann gezeigt – von überbeschützenden Müttern, die sich beim Sohn über den Vater beschwerten, und später von den Feministinnen“. Nun „laufen sie als alt gewordene Buben herum und sind tickende Zeitbomben. Sie sind unglücklich. Aber sie haben auch nichts dagegen, andere unglücklich zu machen“.
Wenn wir weitere Katastrophen verhindern wollen, müssen wir uns überlegen, wie wir unseren Buben neue Ziele, konstruktive Wege und ein anderes Männerbild vermitteln können.
Walter Hollstein, em. Prof. für polit. Soziologie; Gutachter des Europarates für Männerfragen; soeben von ihm erschienen: „Was vom Manne übrig blieb. Das missachtete Geschlecht“ (Stuttgart 2012).