Zuerst erschienen auf Sciencefiles.org

Die Frage, wie die Nationalsozialisten an “die Macht” kommen konnten und wie sie sich an “der Macht” halten konnten, hat Historiker über die letzten Jahrzehnte immer wieder entzweit. Im Hinblick auf die zweite Frage hat sich zeitweise die Meinung durchgesetzt, dass es der NSDAP durch Terror und Zwang – ausgeübt u.a. von Gestapo und Sondergerichten – gelang, die Bevölkerung in Deutschland gefügig zu machen. Ein Aufbegehren gegen die Herrschaft der Nazis, gegen die Verfolgung, Internierung und Ermordung von Behinderten, Homosexuellen, Juden, Kommunisten, Sozialisten oder Zigeunern, so diese Meinung, habe es deshalb nicht gegeben, weil es dem Regime erfolgreich gelungen sei, alle Bereiche der Gesellschaft zu infiltrieren und ein Aufbegehren (geschweige denn einen Aufstand) durch Todesdrohung und Repressionen aller Art im Keim zu ersticken. Neuere historische Forschung zeigt, dass diese Deutung nicht haltbar, dass sie falsch ist.

So berichtet Lawrence Reece (2005, S.60) von den Würzburger Gestapo-Files, deren Analyse u.a. ergeben hat, dass die Gestapo mit anonymen Anzeigen von Deutschen überflutet wurde. Dabei reichte bereits das Verweigern des deutschen Grußes, um von seinen Nachbarn bei der Gestapo denunziert zu werden.

Ian Kershaw hat in diesem Zusammenhang die Bezeichnung “working towards the Führer” geprägt (Kershaw, 2008), um damit den vorauseilenden Gehorsam vieler Deutscher in allen Schichten und Funktionen zu beschreiben, der darin bestand, sich als besonders effizienten “Kämpfer” für die Sache der NSDAP zu profilieren. Denunziation von Nachbarn war, wenn man so will, das Mittel in der Hand der “ordinary citizen”, während sich die direkte Umgebung von Hitler eher darin gefiel, die Zustimmung des Führers zu von ihnen ausgeheckten Maßnahmen wie z.B. die Ermordung von Behinderten in den entsprechenden Heimen zu erheischen. Waren diese Maßnahmen erst einmal etabliert, dann zeigte sich regelmäßig, dass die Ausführenden vor Ort, also die Ärzte in Heimen wie z.B. Aplerbeck, die “Euthanasie” Behinderter  im wahrsten Sinne des Wortes in die eigene Hand nahmen und eine Mord-Effizienz an den Tag legten, die eigenmotiviert war, nicht das Ergebnis dezidierter und am Einzelfall ausgerichteter Mordbefehle (Reece, 2005, S.73-77).

Daran, dass Deutsche mit dem Regime recht zufrieden waren und das Regime es nicht nötig hatte, seine Bevölkerung mit der eisernen Knute zu unterdrücken, lassen auch die Ergebnisse einer groß angelegten und sich über Jahre erstreckenden Studie keinen Zweifel, die Eric A. Johnson im “British Journal of Criminology” veröffentlicht hat:

The evidence presented here leads to the conclusion that consent and cooperation, rather than fear, terror and coercion, characterized the experience of most German people during the Third Reich, so long as they were not Jewish or Communist or from a few other minority groups (Johnson, 2011, S.611).

[Übersetzung: Die Belege, die in dieser Arbeit präsentiert wurden, lassen nur den Schluß zu, dass Zustimmung und Kooperation, nicht Angst, Terror und Zwang die Haltung der meisten Deutschen im Dritten Reich zu beschreiben vermag, jedenfalls solange diese Deutschen keine Juden, Kommunisten oder Angehörige einer anderen Minderheit waren.]

Die zitierte Aussage ist das Ergebnis einer sehr umfangreichen Untersuchung, in deren Verlauf über mehrere Jahre hinweg u.a. mehr als 1000 zufällig ausgewählte Verfahrensakten von Gestapo und Sondergericht für Bergheim, Köln und Krefeld analysiert wurden, sowie mehr als 3000 Deutsche (Juden und Nicht-Juden), die zur Zeit des Dritten Reiches in Köln, Krefeld, Dresden oder Berlin lebten, und 8000 weitere Deutsche befragt wurden. Das für deutsche Verhältnisse unglaublich umfassende Datenmaterial zeigt, dass die Strafverfolgung im Dritten Reich eine selektive Strafverfolgung war, die sich nicht an der begangenen Straftat ausgerichtet hat, sondern an der Person dessen, der die Straftat begangen hat. So hatten nicht-jüdische oder nicht-kommunistische Deutsche eine verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit z.B. wegen einer Beschimpfung von Hitler strafrechtlich belangt oder gar in ein Konzentrationslager verschleppt zu werden, während jüdische oder kommunistische Deutsche, die z.B. einen Hitlerwitz erzählten, mit fast 100%tiger Sicherheit damit rechnen konnten, im KZ zu landen:

Clearly, this has to mean that the Gestapo, police, Nazi party and other authorities did not blanket the entire population with terror and fear, and did not even try to police most criminal offences (Johnson, 2011, S.610).

[Übersetzung: Dies lässt nur den Schluss zu, dass Gestapo, Polizei, NSDAP und andere Behörden die Bevölkerung nicht mit Terror und Angst überzogen haben, dass sie nicht einmal die Mehrzahl begangener Straftaten verfolgt haben.]

Die dargestellten Analysen lassen somit nur den Schluss zu, dass das Dritte Reich von der Mehrheit seiner Bevölkerung freiwillig mitgetragen und zum Teil vorauseilend gehorsam unterstützt wurde, Zwang und Terror war demnach nicht notwendig.

Literatur

  • Johnson, Eric A. (2011). Criminal Justice, Coercion and Consent in ‘Totalitarian’ Society. British Journal of Criminology 51(3): 599-614.
  • Kershaw, Ian (2008). Hitler, the Germans, and the Final Solution. New Haven: Yale University Press.
  • Reece, Lawrence (2005). The Nazis. A Warning from History. London: BBC Books.

 

Weitere Beiträge

Prof. Adorján Kovács: Die Deutschen heben wieder ab

Ein Volk der Extreme: Wie aus Nazis Linke wurden und aus Linken Nazis werden: Interview mit Professor Adorján Kovács, Arzt und Publizist

Alexander Ulfig: Sie arbeiten als Arzt und sind daneben auch als Publizist tätig. Ihre publizistischen Arbeiten kreisen fast alle um Deutschland. In Ihrem Buch „Deutsche Befindlichkeiten“ werfen Sie den Deutschen die Neigung zu Übertreibungen und Extremen vor....

Kann ein Faschist große Literatur schreiben?


Die Bewertung faschistischer Intellektueller in Europa erfolgt mit zweierlei Maß: Gab es gute und böse Faschisten?
Teil 1: Ungarn und Rumänien Mögen andere Länder verdrängen und vertuschen, Du, glückliches Deutschland, bist immer ehrlich, weißt genau Bescheid und alles besser! Denn Deutschland ist das Land der Vergangenheitsbewältigung und hat als solches durch eine zwar recht spät installierte,...

Konsequenter Verfassungsbruch

Deutsche Richter und die Gleichheit der Geschlechter vor dem Gesetz
Zuerst erschienen auf Sciencefiles.org
Hannah Arendt wird zugeschrieben, im Zusammenhang mit der Frage, wie der Nationalsozialismus möglich gewesen ist, von der Trivialität des Bösen, der Faschisierung in kleinen Schritten gesprochen zu haben. Gemeint hat sie damit wohl die stetige und inkrementelle Aufweichung...

Feminismus als Ideologie


Ideologien sind wie Krankheiten oder böse Geister. Sie beherrschen zeitlang das Denken und Leben der Menschen. Die meisten Menschen können sich ihnen kaum entziehen. Wie narkotisiert folgen sie ihnen. Auch ansonsten aufgeklärte und kritische Menschen sind von ihnen naiv begeistert und schalten bei ihrer Beurteilung ihre Kritikfähigkeit völlig aus.
Moderne Ideologien wie der Feminismus haben aus dem...

Die Todeslust


Eine Überlegung zum norwegischen Massenmörder
Der Dichter Georg Heym schrieb am 6. Juli 1910 in Berlin in sein Tagebuch:
„Ach, es ist furchtbar. Schlimmer kann es auch 1820 nicht gewesen sein. Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit...

Zwanzig Jahre Srebrenica: Massenmord an Männern bis heute nicht aufgearbeitet


Dieser Tage veröffentlichen viele Medien Artikel zum zwanzigsten Jahrestag des Massakers von Srebrenica. Mit den geschlechterpolitisch relevanten Aspekten dieses Massenmords habe ich mich in meinem Buch Plädoyer für eine linke Männerpolitik beschäftigt:
So stürmte im Juni 1995 die serbische Armee die Stadt Srebrenica im Osten Bosnien-Herzegowinas und schlachtete fast 8000 Männer und ältere...