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Postmoderne Identitätspolitik setzt dem Westen erheblich zu, wie Alexander Ulfigs neues Buch „Das bedrohte Vermächtnis der europäischen Aufklärung. Wege aus der gegenwärtigen Krise“ zeigt.

Ganz ist sie noch nicht verschwunden, aber Teile von ihr scheinen wirklich nur noch ein Märchen zu sein: Die Aufklärung. Zumindest wenn man dem neuen Buch des Philosophen Alexander Ulfig glauben möchte. Ulfig bezieht sich damit natürlich auf die philosophisch/politische Strömung des 18. Jahrhunderts. Die Aufklärung beschreibt eine Zeit, die vor allem durch eine immer stärker werdende Skepsis gegenüber weltlichen und geistigen Autoritäten geprägt war. Die von ihnen vertretenen gesellschaftlichen Normen wurden nicht mehr einfach akzeptiert, sondern sollten sich dem kritischen Blick der Vernunft stellen und bei negativem Befund geändert werden. Im Laufe der Zeit entstanden aus dieser Bewegung sowohl die modernen Nationalstaaten als auch viele gesellschaftliche Errungenschaften wie Meinungsfreiheit, Menschenrechte und Religionsfreiheit.

Genau dieses Erbe sieht Ulfig als gefährdet an. Er identifiziert in seinem Werk „Das bedrohte Vermächtnis der europäischen Aufklärung. Wege aus der gegenwärtigen Krise“ zwei hauptsächliche ‚Kräfte‘, die am (Zerstörungs-)Werk sind. Zum einen ist das die philosophische Postmoderne und die von ihr abgeleiteten Ideologien wie politische Korrektheit, Gender und Identitätspolitik. Zum anderen der politische Islam, der laut dem Autor auch in westlichen Ländern an Bedeutung gewinnt.

Diesen beiden Phänomenen und ihren Erscheinungsformen spürt der Autor in den insgesamt neun Kapiteln des Buches philosophisch nach. Die Reihenfolge der Kapitel folgt dabei keinem stringenten roten Faden. Vielmehr behandelt jedes Kapitel einen einzelnen Aspekt, was dem Buch insgesamt mehr den Charakter einer Textsammlung verschafft. Wenn die Texte auch nicht aufeinander aufbauen, so sind sie doch miteinander verwoben.

So arbeitet Ulfig z.B. in Kapitel 3 sehr gelungen den Unterschied zwischen dem Individualismus der Aufklärung und seiner postmodernen Erscheinungsform heraus. Ersterer rückt zunächst das Individuum in den Mittelpunkt. Der individuelle Mensch, der mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet ist, die ihm qua Existenz zukommen, ist der Ausgangspunkt aller Entscheidungen. Dabei orientiert er sich aber an allgemeinen Vernunftgründen, die zu einem guten Zusammenleben aller Menschen führen. Die moderne Form ist laut Ulfig dagegen durch eine eher zwanghafte Neigung zur persönlichen Einzigartigkeit gekennzeichnet, die auch im Relativismus der philosophischen Postmoderne begründet liegt. Das wichtigste Ziel ist es, „anders“ zu sein. Da aber das Korrektiv der allgemeinen Vernunftgründe fehlt, führt diese Haltung zu dem heute weit verbreiteten „Opfermodus“, der allen anderen abverlangt, sich am eigenen persönlichen Befinden zu orientieren. „Das gefühlsmäßige Erleben wird zum Ort der unverfälschten Ich-Entwicklung und Wahrheitsfindung“, wie Ulfig schreibt.

In Kapitel 4 beschäftigt sich der Autor dann näher mit den universellen Menschenrechten der Aufklärung und wie sie heute durch partikulare Sonderrechte von Minderheiten ausgehöhlt werden. Hier wird dann das von ihm vorher herausgearbeitete Grundmuster sichtbar. Menschengruppen sprechen nur noch über das Trennende und nicht darüber, was sie verbindet. Universelle Vernunftgründe wie Chancengleichheit oder Gleichberechtigung werden zu Ergebnisgleichheit und Bevorzugung von vermeintlich benachteiligten Gruppen. Als Grund dafür sieht er den Kulturrelativismus der philosophischen Postmoderne. Denn: „Für den Kulturrelativisten gibt es […] keine universellen, d.h. für alle Menschen geltenden Werte und Normen. Auch Menschenrechte können nicht universell sein.“

In Kapitel 5, das sich mit der Meinungsfreiheit und dem Gespenst der Hate Speech auseinandersetzt, erfrischt, dass der Autor neben bekannten Argumenten – wie etwa, dass Worte keine Handlungen sind – auch noch einige neue Aspekte in die Diskussion einbringt. So verteidigt er die Meinungsfreiheit u.a. mit psychoanalytischen Argumenten. So verweist er u.a. darauf, dass es nicht nur bei Individuen sondern auch in Gesellschaften verdrängte und tabuisierte Gefühle gibt. Nicht offen über diese sprechen zu können, löst das eigentliche Problem aber nicht, sondern verschlimmert es noch. Demzufolge ist ein offener Meinungsaustausch ohne Tabus wichtig. Meinungsfreiheit ist also nicht nur ein Menschenrecht, sondern auch der Gesundheit zuträglich.

Während oben genannte Aspekte vor allem mit der philosophischen Postmoderne zusammenhängen, widmet sich der Autor in Kapitel 2 explizit dem politischen Islam. Dabei geht er weniger auf dessen derzeitige Erscheinungsformen ein als auf das historisch gewandelte Verhältnis der Linken zur Religion im Allgemeinen. Früher waren Progressive, auch beeinflusst durch Marx‘ Materialismus, religionskritisch eingestellt. Sowohl die Idee eines rein geistigen Wesens als auch der Befolgung von dessen Geboten stand man kritisch gegenüber. Diese Einstellung hat sich auch in Folge der Postmoderne und ihres Relativismus geändert. Religion gilt heute unter Linken eher als eine kulturelle Besonderheit, die zu respektieren und nicht zu kritisieren ist.

Dabei würden, wie Ulfig sehr präzise aufzeigt, auch heute noch grundlegende Überzeugungen von „Linken“ gegen den Islam und erst recht gegen dessen Sonderbehandlung sprechen. Dass viele Linke dem Islam unkritisch gegenüberstehen, sieht der Autor auch darin begründet, dass sie Schuldgefühle aufgrund der deutschen Vergangenheit hegen, dabei aber „im Durcharbeiten von Schuldgefühlen steckengeblieben“ sind. Sie können oder wollen nicht verstehen, dass „Nein zu sagen, zu kritisieren, Grenzen zu setzen und zu verurteilen“ nicht „Zerstörung oder Vernichtung“ bedeutet.

Die Kapitel 6 bis 8 bewegen sich auf einer etwas theoretischeren Ebene. Hier setzt sich der Autor u.a. mit der kritischen Theorie von Horkheim und Adorno auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass sie substanzlos ist und ihre antiaufklärerische Haltung nicht konsistent erklären kann.  Außerdem verteidigt er den Humanismus und präzisiert seine Kritik an der philosophischen Postmoderne.  Noch mehr als in den vorangegangenen Kapiteln ist hier allerdings ein wenig philosophische Grundbildung von Nöten. Ulfig ergeht sich zwar nie in unverständlicher Fachsprache, aber wer noch nie mit Philosophie in Berührung gekommen ist, wird hier die eine oder andere Verständnisschwierigkeit haben.

So gesehen fällt das letzte Kapitel dann auch etwas aus dem Rahmen. Der Autor, der in der Vergangenheit schon zu Genderpolitik und Frauenquoten publiziert hat, beschäftigt sich hier mit dem weiblichen Narzissmus und Männerhass. Wie der Titel schon andeutet, bewegt er sich hier eher im Bereich der Psychologie als der Philosophie. Dieser erste Eindruck bestätigt sich auch schnell, da hauptsächlich Argumente aus der Psychoanalyse verwendet werden. Das tut der Qualität des Kapitels keinen Abbruch, auch wenn man sich an manchen Stellen nicht des Eindrucks erwehren kann, dass der Autor hier persönlich involviert ist.

Ulfig gelingt es, allgemeinverständlich zu zeigen, wo das Erbe der Aufklärung, das unsere moderne Zeit erst möglich gemacht hat, wieder gefährdet wird. Auch Personen ohne philosophische Vorbildung können die zentralen Argumentationsstränge gut nachvollziehen. Das Buch ist damit nicht nur ein Muss für Kritiker z.B. der Identitätspolitik, sondern auch für alle Freunde der Freiheit, die die Grundlagen aktueller Entwicklungen auf einer etwas tieferen Ebene verstehen wollen.

Alexander Ulfig, Das bedrohte Vermächtnis der europäischen Aufklärung. Wege aus der gegenwärtigen Krise, Deutscher Wissenschafts-Verlag, Baden-Baden 2021.

Die Rezension erschien zuerst auf Novo.

 

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