Eine Überlegung zum norwegischen Massenmörder
Der Dichter Georg Heym schrieb am 6. Juli 1910 in Berlin in sein Tagebuch:
Ach, es ist furchtbar. Schlimmer kann es auch 1820 nicht gewesen sein. Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterlässt. Wenn ich mich frage, warum ich bis jetzt gelebt habe. Ich wüsste keine Antwort. Nichts wie Quälerei, Leid und Misere aller Art. [...] Ich bin von dem grauen Elend zerfressen [...] Ich bin schlecht aus Unlust, feige aus Mangel an Gefahr. Könnte ich nur einmal den Strick abschneiden, der an meinen Füßen hängt.
Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut, ich wäre der erste, der sich darauf stellte [...] Oder sei es auch nur, dass man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul, ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.
Was haben wir auch für eine jammervolle Regierung, [...] d[ie] sich in jedem Zirkus als Harlekin sehen lassen könnte. Staatsmänner, die besser als Spucknapfhalter ihren Zweck erfüllen, denn als Männer, die das Vertrauen des Volkes tragen sollten.
1910 herrschte seit fast 40 Jahren Frieden in Deutschland. Manche ertragen einen so lang andauernden Frieden offenbar nicht. Heute, im Jahr 2012, sind es 67 Jahre, dass in Westeuropa Frieden herrscht. Möglich, dass hier ein Grund für Leute wie Anders Behring Breivik vorliegt, den Exzess der Gewalt zu suchen.
Es ist schwierig, über kollektive Psychologie zu raisonnieren. Gibt es sie überhaupt? Aber kann es nicht doch sein, dass die „Mühen der Ebene“ (Bertolt Brecht) nur eine gewisse Zeit zu ertragen sind, so wünschenswert diese einförmige, langweilige Ebene des Friedens auch sein mag? Nicht nur Peter Scholl-Latour hat darauf hingewiesen, dass wir in Europa in einem vollkommen exotischen, ja tatsächlich unnatürlichen Zustand des Friedens und Wohlstands leben, wenn wir uns einmal die Weltgeschichte und die Zustände in jedem anderen Teil der Welt heute betrachten. Diese Zivilisationsleistung ist sehr mühsam zu erhalten, äußerst fragil in ihrem Bestand, sie wird sicherlich auch erkauft durch die Unterdrückung vieler menschlicher Eigenschaften, die nicht schön sind, aber die nach einer Kanalisierung suchen.
Der deutsche Dichter Friedrich Hölderlin hat im Dezember 1800 in seiner Ode „Stimme des Volks“ geschrieben:
Denn selbstvergessen, allzubereit den Wunsch
Der Götter zu erfüllen, ergreift zu gern
Was sterblich ist, wenn offnen Aug’s auf
Eigenen Pfaden es einmal wandelt,Ins All zurück die kürzeste Bahn; so stürzt
Der Strom hinab, er suchet die Ruh’, es reißt,
Es ziehet wider Willen ihn, von
Klippe zu Klippe den SteuerlosenDas wunderbare Sehnen dem Abgrund zu;
Das Ungebundne reizet und Völker auch
Ergreift die Todeslust...
Die friedlichen Ströme, die meist gleichförmig dahinfließen, brechen sich plötzlich mit der ganzen angestauten Gewalt ihrer Wassermassen Bahn. Über hundert Jahre später erst hat Sigmund Freud dieses Phänomen gewissermaßen wiederentdeckt.
Georg Heym selbst wollte nach einem verhassten Jurastudium eine Militärlaufbahn einschlagen. Er, der so sehr an der Langeweile der Kaiserzeit litt, verunglückte am 16. Januar 1912 beim Schlittschuhlaufen auf der Havel tödlich, als er seinen eingebrochenen und ertrinkenden Freund Ernst Balcke retten wollte. Der expressionistische Dichter war tiefer Mitmenschlichkeit fähig. Aber nur zwei Jahre später hätte der Staat ihm alle Gelegenheit dazu geboten, seine Gewaltfantasien in furchtbarster Weise auszuleben.
Inmitten unserer friedlichen Gesellschaften, damit muss leider gerechnet werden, wachsen immer mehr Menschen heran, die sich mit den gelenkten Angeboten der Abreaktion von aggressiven Energien nicht mehr zufriedengeben. Extremsportarten reichen nicht mehr aus. Da der Staat, Gott sei Dank, das ganz große Angebot des Krieges nicht mehr macht, werden sie sich ihre eigenen Wege suchen. Ideologien von rechts und links, religiöse und nichtreligiöse, stehen bereit, um entweder missbraucht zu werden und eine Begründung für den Exzess zu liefern, die nur in der Interpretation des Täters existiert oder auch, um genau so disponierte Menschen an sich zu binden und zur tatsächlichen Ausübung von Gewalt zu bringen, die theoretisch schon wirklich angelegt ist. Wehren kann sich die Gesellschaft nur gegen die zweite Variante, gegen das Missverständnis nicht.
Dieser Beitrag ist eine veränderte Fassung eines Textes, der im beim Verlag Die Blaue Eule erschienenen Buch des Verfassers („Deutsche Befindlichkeiten“) publiziert wurde.