Über die (noch) fast grenzenlose Freiheit von Grapschern und sexuellen Anmachen in Deutschland
Die Debatte um sexuelle Belästigung von Frauen ebbt nicht ab. Zuletzt bei den sog. „Sex- Mobs" in der Silvesternacht, aber auch im letzten Jahr, als selbsterklärte „Pick-Up- Artists" Jagd auf „sexhungrige" Frauen machten, die freilich durch die offensiv eingesetzten Fertigkeiten der „Abschlepp-Künstler" erst noch „überzeugt" werden mussten. Und vor zwei Jahren löste der FDP-Politiker Rainer Brüderle mit seiner Bemerkung, die Bluse einer Journalistin könne auch ein Dirndl gut ausfüllen, einen Aufschrei der Empörung aus.
Über die Berichterstattung der Massenmedien hinaus scheint das sexualisierte Verhalten der Männer von heute ein omnipräsentes Problem zu sein: Geht es nach einschlägigen Medienvertretern und Feministen-Gruppen, ist der Sexismus in deutschen Bars und Clubs, aber auch in Schulen sowie am Ausbildungs- und Arbeitsplatz ein allgegenwärtiges Dauerproblem.
Dr. Alexander Stevens ist Fachanwalt für Strafrecht und als einziger Anwalt überhaupt in Deutschland ausschließlich auf die Sexualdelikte (Vergewaltigung, Missbrauch, Kinderpornographie) spezialisiert.
Einem breiten Publikum ist er auch durch sein Wirken als „TV-Anwalt“ in verschiedenen Fernsehsendungen (u.a. „Richter Alexander Hold oder „Im Namen der Gerechtigkeit“) bekannt. Im April 2016 erscheint sein erstes Buch „Sex vor Gericht“ (Knaur Verlag) .
Stevens vertritt sowohl Täter als auch Opfer von Sexualdelikten gleichermaßen. Nähere Informationen unter: www.lucas-stevens.de
Der Ruf nach schärferen Gesetzen und härteren Strafen gegen sexuelle Belästigung erklingt immer lauter und die Toleranzgrenze bei wie auch immer gearteter Annäherung ist bundesweit am Siedepunkt. Wiederholt geistern Mythen und Halbwahrheiten durch die Medienberichterstattung, gleichzeitig weiß aber kaum einer wirklich, wie die Rechtslage bei sexueller Belästigung in Deutschland ausgestaltet ist.
Das erste Problem stellt sich bereits bei der Begriffsbestimmung. Denn was genau unter einer „sexuellen Belästigung" zu verstehen ist, da hat so ziemlich jeder eine ganz eigene Vorstellung: Beim Einen beginnt diese bereits mit einer flattrigen Bemerkung zweideutigen Inhalts oder mit der scheinbar zufälligen Berührung. Andere empfinden sexualisierte oder sexistische „Herrenwitze" als sexuell belästigend. Bei wieder anderen beginnt die Belästigung mit dem geifernden Blick in den Ausschnitt oder plumpen „Angeboten" eindeutigen Inhalts, sei es verbal oder als schlüpfrige SMS auf dem Handy.
Große Einigkeit besteht immerhin darin, dass die Grenze zwischen Scherz und Flirt einerseits und sexueller Belästigung andererseits jedenfalls dann eindeutig überschritten ist, wenn „geschlechtliche Körperregionen" in unerwünschter Weise mehr als nur flüchtig berührt werden. Wobei allerdings auch hier die Meinungen auseinandergehen, nämlich was Alles zu den „geschlechtlichen Körperregionen" zählen soll: Einigkeit besteht hier nur bei dem Griff zwischen die Beine, aber was ist mit Brust und Po, oder den Oberschenkeln? Vielleicht aber auch der Mund, die Wangen oder „nur" die Schultern? Was ist mit Berührungen der nackten Haut, etwa ein Streicheln des Oberarms oder vielleicht des Handrückens?
Nach einer vielzitierten Studie sollen europaweit zwischen 83 und 102 Millionen Frauen ab 15 Jahren von sexueller Belästigung betroffen sein - das sind immerhin zwischen 45 und 55 Prozent aller Frauen innerhalb der gesamten EU, eine sehr beachtliche Zahl. Allerdings weist auch diese Studie darauf hin, dass eben jeder Mensch eine ganz eigene Meinung dazu hat, was genau eine sexuelle Belästigung sein soll: ob etwa plumpe Annäherungsversuche durch Männer, sexistische Witze oder ungewollte Nacktfotos per SMS bereits zu einer sexuellen Belästigung zählen, wurde bei den Befragten sehr unterschiedlich gesehen, was sicherlich auch vom jeweiligen Kontext im konkreten Einzelfall abhängen mag.
Diese Überlegungen waren sicherlich bisher vermutlich ein maßgeblicher Grund dafür, dass der Gesetzgeber bislang die sexuelle Belästigung nicht unter Strafe gestellt hat: Denn die Meinungen zur sexuellen Belästigung sind bis auf eindeutige Extremfälle letztlich ausschließlich subjektiv geprägt und gehen so weit auseinander, dass eine allgemeingültige Definition kaum möglich erscheint. Dies aber wäre notwendige Bedingung um Eingang in eine rechtssichere gesetzliche Regelung zu finden, die ja dann unabhängig vom Einzelfall und für jeden gleichermaßen gelten müsste.
Entsprechend entfalten sexuelle oder sexualisierte Handlungen nach der derzeitigen Rechtslage eine strafrechtliche Qualität erst dann, wenn sie eine gewisse „Erheblichkeitsschwelle" überschreiten und zudem dabei zusätzlich entweder durch ein Ausnutzen einer mangelnden Willensbildung des Opfers (z.B. bei stark Alkoholisierten bzw. Schutzlosen) oder durch Gewalteinwirkung oder Bedrohung erfolgen.
Sprich, wegen eines Sexualdeliktes wird nach derzeitigem Recht strafrechtlich nur verfolgt, wer sein Opfer durch eine erhebliche sexuelle Handlung missbraucht oder nötigt (vergewaltigt), nicht aber „nur" belästigt. Momentan sind also das Spannen, beschämende sexuelle Bemerkungen und Berührungen von Po, Brüsten oder auch im Schritt (solange dies oberhalb der Kleidung erfolgt), aber auch der plötzliche Kuss auf den Mund streng genommen nicht strafbar. Der Grund dürfte in den genannten Abgrenzungsproblemen zu suchen sein. Solche Belästigungen sind eben noch nicht so erheblich, als dass sie den schwer bestraften Sexualtaten des Strafgesetzes zugeordnet werden könnten.
Das Kernproblem liegt letztlich darin, dass bislang im Strafrecht wie bereits gesagt grundsätzlich nur solche Taten verfolgt werden können, welche unter Ausnutzung einer mangelnden Willensbildung beim Opfer oder mit Gewalt bzw. Drohung erfolgen. Wenn aber eine „sexuelle Nötigung" vorliegt, dann drohen nach dem Gesetz sehr harte Strafen, was letztlich die bereits genannte „Erheblichkeitsschwelle" begründet: Denn auch wenn das Begrapschen des Pos oder der ersichtlich ungewollt aufgedrückte Kuss fraglos eine nicht hinnehmbare Belästigung darstellen, will der deutsche Gesetzgeber ein solches Verhalten nachvollziehbarerweise nicht mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestrafen. Das aber wäre die unweigerliche Folge, würde man hierbei schon von einer Sexualstraftat wie etwa einer sexuellen Nötigung sprechen.
Gleichzeitig existiert aber ein Straftatbestand der „sexuellen Belästigung" bislang nicht. Und so missachtend und moralisch verwerflich sexuelle Belästigungen auch sein mögen, sie stellen streng juristisch betrachtet auch keine Beleidigung im strafrechtlichen Sinne dar. Der Gesetzgeber hat sich - zumindest bis jetzt - ganz bewusst dagegen entschieden sexuelle Belästigungen unter den strafrechtlichen Schutz zu stellen. Und deshalb sollen die Beleidigungsdelikte kein Substitut, etwa ein „kleines Sexualstrafrecht" werden, zumal eine Beleidigung verlangt, dass der Täter mit seiner sexuellen Belästigung sein Opfer auch beleidigen will, sprich ihm seine Missachtung entgegenbringen, was in den meisten Fällen eben gerade nicht das zugrunde liegende Motiv für die Belästigung sein wird: Vielmehr will der Täter eine sexuelle Annäherung oder schlicht eigene sexuelle Erregung erzielen und dabei selten (nachweisbar) beleidigen wollen - für das Opfer freilich ein schwacher Trost, da es sich durch die Belästigung sicherlich beleidigt fühlen wird.
Im deutschen Strafrecht kommt es aber bei der Bewertung einer Strafbarkeitsverwirklichung ausschließlich auf die Sicht des Täters, nicht des Opfers an - gleichwohl es genügend Richter gibt, die entgegen dieser Gesetzeslage sexuelle Belästigungen dennoch als Beleidigung aburteilen.
Und die einzig verbleibende strafrechtliche Alternative, um bei einer erheblichen sexuellen Belästigung doch noch zu einer Bestrafung der oder des Täter(s) zu gelangen, die (einfache) Nötigung (wie man sie etwa auch aus dem Straßenverkehr kennt), scheidet im Regelfall aus, weil die betroffene Person nicht durch Gewalt oder Drohung zur Duldung der sexuellen Handlung genötigt worden sein wird. Wie erst jüngst durch die sog. „Sex-Mobs" belegt, spielen bei den meisten sexuellen Übergriffen Überraschung und Schnelligkeit eine Rolle, nicht physische Gewalt, zumal die juristischen Anforderungen an Gewalt sehr hoch liegen.